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ExperteninterviewStürze ernst nehmen, aber nicht dramatisieren

In Deutschland suchen pro Jahr etwa eine Million Menschen eine Notaufnahme auf, weil sie einen Sturz erlitten haben. Jedes zehnte dieser Ereignisse führt zu einer Verletzung, deren Folgen insbesondere für ältere Patienten oft gravierend sind. Im Experteninterview gibt Prof. Dr. med. Clemens Becker, Heidelberg, Tipps für die Sturzprävention.

Man sollte das Thema Stürze zwar ernst nehmen, aber nicht dramatisieren.

Wie kann man die vorwiegend älteren sturzgefährdeten Patienten in der hausärztlichen Praxis gezielt ansprechen?

Prof. Clemens Becker: Bei Sturzereignissen gibt es eine sehr hohe Dunkelziffer, denn nur etwa 20 Prozent der Betroffenen suchen deswegen ihren Hausarzt auf. Zu den Gründen für das Verschweigen gehören unter anderem Angst vor Stigmatisierung und Verlust an Autonomie.

Ich empfehle daher, dieses Thema ab einem Alter von 70 Jahren routinemäßig mindestens einmal im Jahr anzusprechen. Dabei ist der Begriff “Sturz” nicht optimal, weil er sprachlich eine Verletzung impliziert.

Da man aber auch stolpern oder hinfallen kann, ohne sich zu verletzen, sollte man eher von “Hinfallen” sprechen.

Wie beginnt man so ein Gespräch am besten?

Am Anfang stehen drei Fragen:

  • Sind Sie in den zurückliegenden zwölf Monaten hingefallen?
  • Haben Sie subjektiv das Gefühl, dass Sie im Vergleich zu vor einem Jahr unsicherer gehen?
  • Haben sie Angst hinzufallen, obwohl Sie in den letzten zwölf Monaten nicht hingefallen sind?

Was schließt sich an, wenn eine der drei Fragen mit Ja beantwortet wurde?

In diesem Fall oder wenn man als Hausarzt zu einem Sturz gerufen wird bzw. ein Patient deswegen in einer Notaufnahme war, sollte ein multifaktorielles Assessment folgen. Leider fehlt dafür oft die Zeit.

Am Anfang stehen Fragen zum Sturzhergang und zu prädisponierenden Faktoren. Die anschließende körperliche Untersuchung beurteilt Gang, Kraft und Gleichgewicht. Sie besteht mindestens aus dem Messen des Gehtempos und dem Timed-up-and-go-Test (TUG, siehe Kasten unten).

Welche weiteren sturzbegünstigenden Faktoren müssen abgeklärt werden?

Gerade bei multimorbiden älteren Menschen mit Multimedikation sollte ein Medikationscheck erfolgen. Dabei ist insbesondere die Indikation für Sedativa inklusive Antihistaminika, Neuroleptika, Antidepressiva, Alphablocker aus dem urologischen Bereich, Nitrate sowie Opioide und Opiate zu prüfen.

Bei der Identifikation riskanter Wirkstoffe kann die letztmals 2024 aktualisierte FORTA-Liste (Fit FOr The Aged*, auch als App verfügbar) helfen. Zu empfehlen ist ferner die englischsprachige App STOPFALLS (siehe Abbildung unten). Wenn nötig und möglich, sollte sich ein Deprescribing sturzbegünstigender Medikamente anschließen, das heißt eine Verringerung der Dosis oder gar ein völliges Absetzen unter engmaschiger Kontrolle.

Ferner muss ein orientierender Sehtest erfolgen, wenn die Patienten in den letzten drei Jahren nicht beim Augenarzt waren. Dazu eignet sich der einfach in wenigen Minuten am Computer oder Smartphone – bei Bedarf unter Anleitung durch die MFA – zu absolvierende Zeiss Vision Check**.

Bei Patienten über 70 empfehle ich ferner einen einfachen kognitiven Screeningtest, zum Beispiel das Montreal Cognitive Assessment (MoCa), das etwa zehn Minuten in Anspruch nimmt.

Nicht selten fallen Patienten beim nächtlichen Gang auf die Toilette hin …

Hier sollte man urologisch abklären, ob sich eine Dranginkontinenz medikamentös oder eine Belastungsinkontinenz durch Beckenbodentraining lindern lassen. Es ist schon ein Fortschritt, wenn die Patienten nachts nicht mehr fünf-, sondern nur noch zweimal auf die Toilette müssen. Das tägliche Trinkpensum sollte so über den Tag verteilt sein, dass abends nur noch wenig getrunken wird.

Leitlinien empfehlen, das häusliche Umfeld auf sturzbegünstigende Faktoren abzuchecken. Wie kann das ablaufen?

Zu diesen Faktoren gehören vor allem schlechte Beleuchtung, lose Teppiche, unzureichende Handgriffe in Bad und Toilette sowie fehlende Handläufe an Geländern. Wohnberatungsstellen sind leider nicht flächendeckend verfügbar. Alternativ kann man auf Rezept einen Hausbesuch durch einen Ergotherapeuten verordnen. Manche Sanitätshäuser bieten so eine Beratung als Kundendienst an.

Wie kann man intervenieren, wenn etwa der TUG schlecht ausgefallen ist?

Es gibt mittlerweile einige Sturzpräventionsprogramme, die von der Zentralen Prüfstelle Prävention*** zertifiziert sind. Broschüren zur Sturzprävention**** hält das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG*****, früher BZgA) bereit.

Eine weitere Adresse ist der Deutsche Turnerbund, der in vielen Städten vertreten ist. Ferner wird in einigen Regionen das Programm “Trittsicher durchs Leben” der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) angeboten.

Gibt es empfehlenswerte Fitness-Apps?

Das Angebot an Apps in diesem Bereich ist unbefriedigend. Bisher sind nur vier wissenschaftlich geprüft worden, die aber in Deutschland noch nicht verfügbar sind.

Wie weit ist das sogenannte Perturbationstraining mit speziellen Laufbändern gediehen?

Es eignet sich sehr gut für das dynamische Balance-Training. Derzeit spielt es zwar noch kaum eine Rolle, wird aber in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen.

Wie geht man mit der Angst vor dem nächsten Sturz um?

Hier muss man zwischen berechtigten und eher phobischen Ängsten unterscheiden. Ein Parkinson-Patient mit mehr als 20 Sekunden im TUG und wiederholten Stürzen in der Vergangenheit benötigt physiotherapeutische Unterstützung, um wieder Selbstvertrauen aufzubauen.

Andernfalls kommen die Menschen in einen Teufelskreis, das heißt sie bewegen sich kaum noch und verstärken dadurch ihre Gangunsicherheit. Bei nicht objektiv begründbarer Sturzangst, etwa wenn noch gar kein Sturz stattgefunden hat, kann dagegen eine verhaltenstherapeutische Intervention angebracht sein.

Was hat es mit der sturzpräventiven Wirkung von Vitamin D auf sich?

Wer keinen D-Mangel hat, den schützt die Einnahme auch nicht vor Stürzen. Menschen, die sich viel draußen aufhalten, benötigen im Sommer kein Vitamin D. In der Zeit von Oktober bis März ist ein saisonales Defizit aber häufig. In dieser Zeit sind 1.000 IE pro Tag sinnvoll, oder auch 20.000 IE einmal pro Woche.

Was wollen Sie den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen besonders ans Herz legen?

Man sollte das Thema Stürze zwar ernst nehmen, aber nicht dramatisieren. In letztere Richtung geht das Zitat von García Márquez: “Der erste Sturz bringt das Alter, der zweite den Tod”. Ich halte es lieber mit Nelson Mandela: “Der größte Ruhm im Leben besteht nicht darin, niemals zu fallen, sondern danach jedes Mal wieder aufzustehen.”

Fußnoten:

* https://www.umm.uni-heidelberg.de/ecas/experimentelle-pharmakologie/research/gruppe-wehling

** https://www.zeiss.de/vision-care/rund-ums-sehen/zeiss-online-seh-check.html (nicht-kommerziell!)

*** https://www.zentrale-pruefstelle- praevention.de

**** https://www.gesund-aktiv-aelter-werden.de/bewegung/sturzpraevention

***** https://www.bioeg.de

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