Berlin. Die Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) Chronische KHK wird zum Zankapfel. Erst Mitte März haben drei Fachgesellschaften überraschend erklärt, die NVL nicht zu konsentieren. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) forderte gemeinsam mit anderen Fachgesellschaften am Freitag (25.4.) die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) sowie die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauferkrankungen (DGPR) dazu auf, die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen.
DEGAM-Präsident Prof. Martin Scherer weist darauf hin, dass es gerade bei der KHK den Zusammenschluss und Austausch aller Beteiligten brauche. Die Erarbeitung der NVL sei „sehr aufwändig“ gewesen, weswegen die Entscheidung von DGK, DGIM und DGPR „sehr bedauerlich“ sei, vor allem weil diese „sämtliche Empfehlungen“ der NVL jahrelang mit getragen hätten.
„Könnte Versorgung erheblich beeinträchtigen“
Ihren Rückzug begründeten DGK, DGIM und DGPR Mitte März damit, dass die NVL die Versorgung „erheblich beeinträchtigen“ könnte, da in „entscheidenden Punkten“ nicht oder nur unzureichend die wissenschaftliche Evidenz und hochwertige Studien berücksichtigt würden. Diese Aussagen überraschen, da gerade bei den NVL als S3-Leitlinien die höchsten Maßstäbe für Studienrecherchen und -analysen angelegt werden.
Die DEGAM widerspricht dieser Kritik daher auch vehement. „Für alle NVL gelten höchste Qualitätsstandards, alle Empfehlungen müssen mit wissenschaftlicher Evidenz unterlegt sein“, erklärt Dr. Günther Egidi, der die DEGAM bei der NVL KHK vertreten hat. „Irritiert“ zeigt sich die Fachgesellschaft darüber, dass DGK, DGIM und DGPR ihre Kritik nicht – wie sonst üblich – während der Leitlinienarbeit vorgebracht haben, sondern erst nach deren Abschluss öffentlich.
Addendum als Kompromiss?
Diese Sichtweise unterstützen auch die Deutsche Gesellschaft für Nuklearmedizin (DGN), die Deutsche Röntgengesellschaft (DGR), die Deutsche Gesellschaft für Verhaltensmedizin und Verhaltensmodifikation (DGVM) sowie die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK). Da die NVL derzeit zum Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) umziehen, ist die gemeinsame Arbeit aktuell sowieso schon erschwert. Die Fachgesellschaften weisen DGK, DGIM und DGPR jedoch darauf hin, dass man kurzfristig ein Addendum zur NVL erstellen könne.
Die unterschiedlichen Auffassungen zwischen den Fachgesellschaften der verschiedenen Versorgungsebenen führen in der Leitlinienerstellung regelmäßig zu Auseinandersetzungen. Bei der KHK verfolgen etwa seit Jahren DEGAM und Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) auf der einen Seite und DGK, DGIM und DGPR auf der anderen Seite verschiedene Wege bei der Lipidsenkung. Die NVL führt daher beide Pfade – „feste Dosis“ und Zielwertstrategie – nebeneinander auf.
Dass die NVL an der Fest-Dosis-Strategie festhält und somit Zielwerte internationaler Leitlinien ignoriere, führen DGK, DGIM und DGPR als einen Grund an, die im August veröffentlichte NVL nicht zu konsentieren. Sie verweisen dazu auf Abweichungen zur ESC-Leitlinie – wobei Kritiker immer wieder ins Feld führen, dass gerade die ESC-Empfehlungen oft nicht systematisch recherchiert seien und bei Leitlinienautoren erhebliche Interessenkonflikte hinsichtlich der Zusammenarbeit mit Arzneimittelherstellern vorlägen. Die sehr niedrigen Zielwerte der ESC sind zudem seit Jahren umstritten.
Höhere Werte in hausärztlicher Betreuung
Dass die unterschiedlichen Empfehlungen in der Praxis ankommen, zeigt die Lipid-Snapshot-Studie, die am Donnerstag (24.4.) beim DGK-Kongress vorgestellt wurde. Demnach lag das LDL-C von Herz-Kreislauferkrankten in kardiologischer Betreuung im Mittel bei 74,8 mg/dl und nur ein Drittel erreichte das in der Studie vorgegebene Ziel von unter 55 mg/dl. In der hausärztlichen Versorgung betrug das Mittel 96,1 mg/dl und 14 Prozent erreichten das Ziel.
Dafür ausgewertet wurden Daten von 1.500 Personen mit atherosklerotischer Herzkrankheit in kardiologischer Behandlung. Diese wurden den Daten aus der elektronischen Patientenakte von rund 82.300 in Hausarztpraxen Betreuten gegenübergestellt. Unterstützt wurde die Studie unter anderem vom Arzneihersteller Novartis.
Kritikpunkte von Kardiologen und Internisten
Als weitere Punkte, bei denen die Evidenz nicht ausreichend in der NVL berücksichtigt sei, führen die DGK, DGIM und DGPR an:
- Bei der Diagnostik würde zu sehr auf Brustschmerz fokussiert. Dabei äußere sich eine KHK bei Älteren vor allem durch häufige Luftnot.
- Ebenso sei es nur bei einem kleinen Teil nötig, vor einer Koronarangiografie bereits das Einverständnis für eine Bypassoperation einzuholen. Denn die Op sei nur bei weniger als fünf Prozent der so Untersuchten nötig. Die NVL sehe die Einverständniserklärung aktuell aber für jeden vor, der eine diagnostische Koronarangiografie bekommen soll. Unpraktikabel sei auch, dass danach immer eine Herzteam-Besprechung mit Chirurg, Kardiologen und Hausarzt stattfinden solle.
- Zudem würde nicht berücksichtigt, dass Herzkatheter auch die Durchblutung des Herzmuskels wiederherstellen könnten.