Mal heißt es “wohnungslos”, mal “obdachlos”. So ähnlich es scheint, ist es doch nicht dasselbe. Als “wohnungslos” bezeichnen wir Personen ohne eigene Wohnung. Dazu zählen auch Menschen, die – meist vorübergehend – bei Freunden auf der Couch, in einer Notunterkunft, einer billigen Pension oder bei den Eltern unterkommen, ohne dass sie dort gemeldet sind.
Von “verdeckter Wohnungslosigkeit” spricht man bei Menschen, die sich in eine (Pseudo-)Partnerschaft begeben, allein aus dem Grund, ein Dach über dem Kopf zu haben. Obdachlose dagegen leben tatsächlich auf der Straße und schlafen zum Beispiel unter Brücken, im überdachten Eingangsbereich von Geschäften, in öffentlichen Toiletten, in einem Zelt oder am Bahnhof.
Manche schlafen nachts gar nicht, sondern laufen umher, um sich nicht im Dunkeln Gefahren auszusetzen, berichtete Rubens. Stattdessen schlafen sie tagsüber im öffentlichen Raum. Zudem gibt es Menschen, die sich in einer “prekären Lebenslage” befinden, das heißt sie sind nicht ausreichend abgesichert, haben zum Beispiel nur Gelegenheitsjobs, Schulden und Schufa-Einträge, was die Wohnungssuche stark beeinträchtigt.
Sie leben daher oft noch in einer Wohnung, die schon längst gekündigt wurde, oder in sehr verwahrlosten Unterkünften (Ratten, undichtes Dach, Schimmel, Wanzen etc.).
Ursachen
Wie geraten Menschen in solche Situationen? Die Hintergründe sind vielfältig, machte Rubens klar. Trennung von Partner/Partnerin, Kündigung, Gesundheitsstörungen wie Trauma, Depression oder eine Suchterkrankung können Auslöser sein.
Die meisten kommen aus zerrütteten Familien, in denen gute, vertrauensvolle Beziehungen fehlen, oder haben wenig Bildungschancen gehabt. Der Griff zu Suchtmitteln ist für viele Betroffene eine Möglichkeit, mit ihrer prekären Lage umzugehen und unangenehme Gefühle wie Scham, Schmerz und Enttäuschung zu verdrängen.
Viele Wohnungs- oder Obdachlose sind traumatisiert, sie können Dinge nicht gut umsetzen, nicht priorisieren und Emotionen regulieren. Außerdem haben sie in der Regel eine Bindungsstörung, das heißt sie sind misstrauisch, haben Angst, sich jemandem anzuvertrauen, und Angst vor Gewalt.
Keine Krankenversicherung
Ein großes Thema ist der oft fehlende Krankenversicherungsschutz. Häufig betroffen sind Haftentlassene sowie Menschen mit ungeklärtem oder illegalem Aufenthaltsstatus oder Personen aus Osteuropa (Bulgarien, Rumänien, Polen, Litauen, Ungarn).
Sie kommen nach Deutschland in der Hoffnung auf Arbeit, erhalten dann mitunter aber nur einen Tagelöhner-Job ohne Sozialleistungen. Auch Menschen, die zeitweise im Ausland gearbeitet haben und dann zurückkehren, können Schwierigkeiten bekommen, wieder versichert zu werden.
Im Notfall sind Ärztinnen und Ärzte zwar verpflichtet, Leben zu retten. Das heißt, dass bei fehlender Versicherung die Kosten von den Sozialämtern übernommen werden müssten. Das tun diese aber höchst ungern bis gar nicht, erklärte Rubens.
Es gibt eine EU-Krankenversicherung (EHIC), die alle im Heimatland abschließen können und damit in allen EU-Ländern das Recht auf Notfallversorgung haben (Formular “Patientenerklärung Europäische Krankenversicherung” ausfüllen).
Die Kostenübernahme für geplante Eingriffe in Deutschland können dann über das Formular S2 beantragt werden. Rentner können über das Formular S1 ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegen und bekommen dann von ihrer stellvertretenden deutschen GKV eine Versicherungskarte.
Häufige Fallstricke
Wichtig zu wissen: Menschen auf der Straße müssen postalisch erreichbar sein, etwa für das Jobcenter oder Krankenkassen. Viele karitative Einrichtungen bieten diesen Service an. Ausweispapiere gehen nicht selten verloren; die Wiederbeschaffung ist je nach Nationalität sehr schwierig. Fehlende Ausweisdokumente sind aber oft ein Hindernis, wieder in Lohn und Brot zu kommen.
In manchen Städten kann die Nutzung von Notschlafstellen daran gebunden sein, dass man Sozialleistungen bezieht oder zumindest leistungsberechtigt ist. Analphabetismus ist ein großes Thema unter Obdachlosen, auch bei Deutschstämmigen. Für diese Menschen sind Fragebögen oder Aushänge große Hindernisse. Viele Dienstleistungen, etwa von Bürgerbüros, laufen über Online-Anmeldungen – für viele eine fast unüberwindbare Hürde.
Es kommt vor, dass Wohnungslose das Glück haben, eine Wohnung zu finden. Sich wieder an den Aufenthalt in geschlossenen Räumen zu gewöhnen, ist aber gar nicht so einfach. Oft sind sie zudem traumatisiert und in ihrer Persönlichkeit verändert und brauchen lange, bis sie das Stigma und den Makel der Wohnungslosigkeit überwunden haben.
Medizinische Besonderheiten
Mit welchen Erkrankungen müssen Sie bei Obdachlosen rechnen? Häufig sind akute Verletzungen durch Stürze oder Prügeleien. Abszesse und Thrombosen können durch Suchtmittelgebrauch entstehen und chronische Wunden etwa als Spätfolgen des postthrombotischen Syndroms.
Auch mit Infektionskrankheiten ist zu rechnen, vom banalen oberen Atemwegsinfekt bis hin zu Hepatitis C, Tuberkulose oder sexuell übertragbaren Infektionen. Krätzemilben, Kopf- und Kleiderläuse sind häufige Begleiter auf der Straße lebender Menschen. Sie leiden außerdem oft an Hypertonie, Gastritis, COPD, zahlreichen Hauterkrankungen, Fußproblemen und psychiatrischen Krankheiten. Viele dieser Leiden verschlimmern sich bei ausbleibender Behandlung. Doch die Hürden, eine Hausarztpraxis aufzusuchen, sind vielfältig (s. Kasten unten).
Auch für Ärzte sind Obdachlose oft besonders herausfordernd. Das hat verschiedene Gründe, etwa wenig gepflegtes Aussehen, mangelnde Deutschkenntnisse, Sprunghaftigkeit im Verhalten und Noncompliance; außerdem erfordern sie oft mehr Zeit. Für Hausärztinnen und Hausärzte, die Obdachlose betreuen möchten, hatte Rubens einige Empfehlungen parat (s. Kasten unten).
Es lohnt sich, machte sie klar. Denn Obdachlose sind oft schwer kranke Menschen, bei denen manchmal auch tolle Erfolge möglich sind. Ein karitatives Profil der Praxis kann zudem mittelfristig eine gute Werbung für motivierte Mitarbeitende sein, die Freude an guter Medizin haben. Nicht zuletzt profitieren von einer Atmosphäre der Annahme und der guten Versorgung aller Menschen auch die “normalen” Patienten.
Quelle: 8. Online-Forum “Beziehungsorientierte Allgemeinmedizin” der AG Psychosomatik der DEGAM am 22.11.2024.